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Christos Georghiou - Fotolia

Immer mehr Abiturienten starten Ausbildung im Handwerk

"Die Bildungspolitik braucht eine übergeordnete Idee", fordert Handwerkspräsident Otto Kentzler im Gespräch mit der Passauer Neuen Presse (16. April 2013). Ihn stört, dass "Abi und Studium blind gepusht" werden. Kentzler: "Wir brauchen beides – berufliche und akademische Bildung." Im Handwerk starteten 2012 mehr Abiturienten als je zuvor eine Ausbildung.

Am Mittwoch ist "Tag des Ausbildungsplatzes" in Deutschland. Ausbildung ist zum Problemfall mutiert. Warum eigentlich?

Kentzler: Die demografische Entwicklung zeigt, dass wir im vergangenen Jahr mit 857.000 rund 100.000 Schulabgänger weniger hatten, als noch vor zehn Jahren. Die Zahl der Abiturienten stieg in dieser Zeit um 82.000, von den Haupt und Realschulen kamen dagegen 160.000 weniger. Das Gros seiner Auszubildenden rekrutiert das Handwerk jedoch unter Hauptschulabsolventen. Es fehlen also schlicht Bewerber.

Der Wirtschaft wird vorgeworfen, dass sie auf der einen Seite über unbesetzte Lehrstellen klagt, auf der anderen Seite zu viele Jugendliche keine Ausbildung finden. Tut das Handwerk nicht genug, um seine Lehrstellen zu besetzen?

Kentzler: Wir sollten bei der Wahrheit bleiben. Vor allem die Leistungsorientierten peilen das Abitur an, dieser Trend führt zu einer negativen Auslese. Es kommt nicht von ungefähr, dass immer mehr Handwerksbetriebe ausgleichen, was den Bewerbern fehlt – mit Nachhilfeunterricht, mit sozialer Betreuung des einzelnen. Wir kümmern uns aktuell auch um 8000 Auszubildende ohne Schulabschluss – das Handwerk unterstreicht damit seine gesellschaftliche Verantwortung.

Ist das Kritik an der Bildungspolitik?

Kentzler: Wir brauchen beides, berufliche und akademische Bildung. Abi und Studium werden jedoch blind gepusht. Der Bildungspolitik in unserem zersplitterten föderalen System fehlt eine übergeordnete Idee! Es stört mich kolossal, wenn Jugendliche mit großartiger handwerklicher Begabung an der überfüllten Massenuni mit ihrer oft sehr strengen Auslese scheitern. Wir werben daher um Abiturienten, die im Handwerk als künftige Führungskräfte und Unternehmer hoch willkommen sind. 2012 mit gutem Erfolg: 9,2 Prozent unserer neuen Auszubildenden haben Abitur, im Jahr davor waren es noch 8,1 Prozent, 2010 erst 6,9 Prozent.

Mit dieser Kritik stehen Sie aber ziemlich alleine da. Gerade erst haben sich Bund und Länder auf eine Förderung der Universitäten mit ihren steigenden Studentenzahlen geeinigt.

Kentzler: Der Philosoph Julian Nida-Rümelin warnt dieser Tage davor, das Studium zu überschätzen. Der Run auf die Hochschulen kostet uns zusätzliche Milliarden, gleichzeitig wird das in aller Welt bewunderte duale Ausbildungssystem geschwächt. Dabei bietet das Handwerk spannende und auch lukrative Karrieren. Studien belegen immer wieder, dass die Bildungsrendite für Menschen mit beruflicher Bildung sogar höher ausfällt.

Wie wollen Sie den Hebel umwerfen?

Kentzler: Kinder sind neugierig. Das sollten die Lehrer nutzen. Wir plädieren für mehr frühzeitige Berufsorientierung, und zwar an allen Schulformen. Auch an Gymnasien! Schüler müssen die Arbeitswelt kennen, um bewusst ihren Bildungswege wählen zu können. Mit einer dualen Ausbildung sind sie ihren Freunden übrigens schnell voraus. Denn Ausbildung im Handwerk ist schließlich auch Persönlichkeitsbildung. Respekt ist dann kein hohles Wort, sondern der Jugendliche lernt, dass man sich Respekt verdienen muss – aber auch im Betrieb zurückerhält.

Interview: Rasmus Buchsteiner